Siegfried Jenkner

Siegfried Jenkner Die Frühzeit von Workuta – ein Überblick aus Berichten und Dokumenten

Siegfried Jenkner Die Frühzeit von Workuta – ein Überblick aus Berichten und Dokumenten

Einleitung

Workuta ist die in Deutschland wohl bekannteste „Insel“ des „Archipels GULAG“, weil nach dem Zweiten Weltkrieg viele Deutsche in dieses Steinkohle-Revier in der nordöstlichen Ecke Europas zwischen Ural und Eismeer deportiert wurden und später darüber berichtet haben. Bei ihnen handelte es sich zunächst vor allem um Kriegsgefangene, die wegen angeblicher oder tatsächlicher Kriegs- und Gewaltverbrechen verurteilt worden waren und ihre Strafe in allgemeinen sowjetischen Zwangsarbeitslagern verbüßen mussten – und zwar zumeist in Workuta. 1950 wurden die Kriegsgefangenen jedoch aus diesen Straflagern abgezogen und in speziellen Kriegsgefangenenlagern in anderen Teilen der Sowjetunion zusammengefasst (1). Seit den endvierziger Jahren kamen dann zunehmend deutsche Zivilisten nach Workuta, die in der SBZ (Sowjetische Besatzungszone) und frühen DDR von sowjetischen Militärtribunalen aus politischen Gründen verurteilt und zur Strafverbüßung in die Sowjetunion gebracht worden waren. Nach den Amnestien von 1953 und 1955 konnten sie in die DDR oder Bundesrepublik zurückkehren (2).

Der Wasserweg von Archangelsk nach Workuta vor Fertigstellung der Eisenbahnlinie Kotlas – Workuta

Schon bald erschienen die ersten, von der noch frischen Erinnerung ge­speisten Berichte. Diese Welle von Veröffentlichungen lief dann in den sechziger Jahren langsam aus und wurde im Gefolge der Publikationen von Alexander Solschenizyn abgelöst durch Erinnerungsbände von sowjetischen und anderen ausländischen Häftlingen. Einen neuen und noch immer anhaltenden Aufschwung nahm die deutsche GULAG- und Workuta-Literatur seit den neunziger Jahren. Jetzt konnten sich auch die in die DDR zurückgekehrten Häftlinge zu Wort melden, außerdem eröffnete sich mit der Rehabilitation der Zugang zu den sowjetischen Strafakten. Dies förderte die Bereitschaft der schon im fortgeschrittenen Alter stehenden Zeitzeugen, ihre Erlebnisse zu veröffentlichen und das eigene Schicksal mit Dokumenten zu belegen (3).

Die vorliegenden Workuta-Erinnerungen behandeln fast ausschließlich die Nachkriegszeit mit Schwergewicht auf den frühen fünfziger Jahren. Nur selten gehen die Autoren auch auf die Zeit davor ein, die sie nicht aus eigener Anschauung, sondern nur aus Berichten überlebender Mithäftlinge kannten. Lediglich der frühere Direktor des Naturkundemuseums Görlitz Helmut Schaefer hat sich nach seiner Rückkehr aus Workuta ausführlicher mit der Entstehung und Entwicklung des Kohlereviers und der Stadt befasst (4). Die wenigen frühen Veröffentlichungen von russischen und ausländischen Gefangenen sind bei uns leider fast ganz vergessen. In das Erinnern an Workuta müssen aber auch die Anfangsjahre des Strafgebiets und das Leiden der damaligen Häftlinge einbezogen werden; dazu bieten die alten Berichte sowie neuere russische Publikationen eine wertvolle Hilfe.

 

  1. Die Entdeckung und Erschließung der Bodenschätze des Petschora-Beckens

2001 erschien in Moskau die Biographie des früheren Chefgeologen von Workuta, Konstantin G. Wojnowskij-Krieger, gemeinsam verfasst von seiner Tochter Ksenja K. Wojnowskaja und der GULAG-Historikerin Jelena W. Markowa (5). Das Buch verbindet eine wissenschaftliche Darstellung der Entdeckung und Erschließung des Kohle-Reviers mit der Schilderung der dortigen Lebens- und Arbeitsbedingungen unter GULAG-Regime und bietet wichtige Informationen über die Frühzeit Workutas.

Die Bodenschätze im Nordosten des europäischen Russlands waren seit langem bekannt. Bereits im 19.Jahrhundert hatten mehrere Expeditionen das Gebiet des Petschora-Flusses erforscht und dort Erdöl- und Kohlevorkommen festgestellt. Die zaristische Regierung war aber wegen der ungünstigen geographischen und klimatischen Bedingungen in dieser abgelegenen Polarregion nicht zur Erschließung der Bodenschätze bereit. Die junge Sowjetmacht ordnete bereits in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre die Wiederaufnahme der Forschungsarbeiten an; mit der Entscheidung zur forcierten Industrialisierung des Landes erhielt dann das Projekt „Eroberung des Nordens“ hohe Priorität. 1928 wurde die weitere Erforschung und Erschließung des Petschora-Beckens der GULAG-Administration übertragen.

Im selben Jahr begann in der Sowjetunion die Verfolgung der naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz und insbesondere der Geologen. 1929 wurde eine erste Schiffsladung verurteilter Wissenschaftler nach Norden an das Ufer der Uchta (eines Nebenflusses der in die Petschora mündenden Ishma) gebracht. Das dort von den Häftlingen errichtete Lager zur Erforschung der Region war der Anfang eines großen Lagergebiets zur Erschließung und Förderung des hier gefundenen Erdöls. In dieses Lager kam 1930 auch der Strafgefangene Wojnowskij-Krieger. Der junge Geologe war 1928 nach Abschluss seines Studiums in Leningrad zu Forschungsarbeiten nach Deutschland, Belgien und Frankreich geschickt worden. Nach seiner Rückkehr wurde er 1929 verhaftet und wegen „Unterstützung der internationalen Bourgeoisie“ (Art. 58, Abs.4 des Strafgesetzbuches) zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt.

In der Biographie werden die extrem harten Bedingungen geschildert, unter denen die inhaftierten Wissenschaftler arbeiten mussten. Sie hausten in Erdhütten, wurden ungenügend mit Nahrung und Kleidung versorgt; es gab kein geeignetes Schuhwerk für die geologischen Expeditionen durch Urwald und Sümpfe und in der kalten Jahreszeit nicht genügend Filzstiefel, Handschuhe und Wattekleidung. Die Folge waren Erfrierungen und Furunkulose, Erkältungskrankheiten und Rheumatismus. Wegen fehlender medizinischer Versorgung häuften sich Arbeitsausfälle. Sie sollten durch neue Häftlingstransporte ausgeglichen werden, doch ein großer Teil der Neuankömmlinge war erschöpft und krank oder ungeeignet für die anfallenden Arbeiten. Unter diesen Bedingungen mussten die Gefangenen zudem unsinnige Normen für wissenschaftliche Ergebnisse erfüllen, anderenfalls drohten zusätzliche Strafen wegen Sabotage.

Trotz dieser Schwierigkeiten hatte . Wjnowskij-Krieger Erfolg bei seinen Erkundungen. Für die Entdeckung eines bisher nicht bekannten Kohlevorkommens an der mittleren Petschora wurde ihm mit einigen Mithäftlingen 1932 die Lagerhaft in unbefristete Verbannung im Petschoragebiet umgewandelt. Jetzt konnten die Forscher außerhalb des Lagers wohnen und sich in der Region frei bewegen – die Lagerverwaltung sparte zudem die Kosten für die Wachmannschaften bei den oft ausgedehnten geologischen Expeditionen.

Im Mai 1931 wurde von Uchta aus eine Gruppe von Gefangenen auf dem Wasserweg weiter nach Norden geschickt. Nach zwei Monaten abenteuerlicher Flussfahrt erreichte sie ihr Ziel am Ufer der Workuta. Hier war ein Jahr zuvor festgestellt worden, dass hochwertige Steinkohle dicht unter der Erdoberfläche lagert. Die Gefangenen legten am Fluss ein Lager aus Erdhütten an, das den Namen Rudnik (Bergwerk) erhielt. Aus ihm entstand 1937 der Ort Workuta, der 1943 Stadtrecht erhielt. In der ersten Hälfte der dreißiger Jahre wurde unter primitivsten Verhältnissen das Gebiet systematisch erkundet, mit dem Bau von Probeschächten begonnen und die erste Kohle gefördert. Der 1. September 1934 gilt mit der Einweihung des Schachtes Nr.1-2 als offizieller Geburtstag des Workutaer Kohlereviers.

1936 wurde Wojnowskij-Krieger nach Workuta versetzt, wo er zunächst die geologische Erforschung des Petschora-Beckens leitete und ab 1941 als Chefgeologe des Kohlekombinats Workuta wirkte. Seine Mitarbeiter waren zumeist gefangene Wissenschaftler, für die er sich sehr einsetzte; er erreichte u.a. ihre Teilnahme an geologischen Expeditionen ohne begleitende Wachmannschaft. Nach Stalins Tod wurde Wojnowskij-Krieger 1953 vollständig rehabilitiert; 1956 verließ er Workuta zur Übernahme einer Professur in der kasachischen Hauptstadt Alma-Ata. Dort ist er 1979 verstorben.

 

  1. Der Weg nach Workuta

Das Hauptproblem der Entwicklung des Kohle-Reviers war – neben den extrem harten Lebens- und Arbeitsbedingungen in dieser Polar- und Permafrostregion – der Transport von Menschen und Material nach Workuta und der Abtransport der Kohle von dort. Zunächst musste alles langwierig und umständlich auf dem Wasserweg transportiert werden: von Archangelsk mit Seeschiffen durch das Weiße Meer und die Barentsee zum Hafen Narjan-Mar an der Mündung der Petschora in das Eismeer, von dort mit Lastkähnen die Petschora und Ussa flussaufwärts bis zur Mündung der nicht schiffbaren Workuta. Als Ende der dreißiger Jahre die geplante Eisenbahnlinie nach Workuta den Oberlauf der Petschora erreicht hatte, ging ein Teil der Transporte von dort flussabwärts und dann die Ussa wieder flussaufwärts. An der Mündung der Workuta wurde der Umschlagplatz Workuta-Wom angelegt, von dem die Güter im Winter auf dem zugefrorenen Fluss mit Pferdeschlitten zu den etwa sechzig Kilometer entfernten Kohleschächten gebracht wurden. Die Häftlinge mussten den Weg zu Fuß zurücklegen, im Sommer durch die sumpfige Tundra, im Winter auf dem Eis des Flusses. Ab 1934 übernahm eine Schmalspurbahn den Transport von Menschen und Material, nachdem die Geologen in mühevoller Arbeit eine Trasse durch das Sumpfgelände projektiert hatten.

In den vorliegenden deutschsprachigen GULAG-Erinnerungen gibt es zwei Berichte über das frühe Workutaer Kohlerevier und den Weg dorthin. Der eine stammt von der Finnin Aino Kuusinen, der Frau des Mitgründers der finnischen KP und späteren hohen Komintern- und Sowjetfunktionärs Otto Kuusinen. Sie war von 1939 bis 1946 als Gefangene in Workuta, wurde 1949 erneut verhaftet und kam bis 1955 in den mordwinischen Lagerbezirk Potma. Erst 1965 konnte sie nach Finnland zurückkehren; dort hat Wolfgang Leonhard sie zur Niederschrift ihrer Erinnerungen angeregt, deren deutsche Fassung er 1972 in Österreich herausgab (6). Den anderen Bericht hat die Polin Marta Rudzka geschrieben, die 1940 im sowjetisch besetzten Ostpolen verhaftet und im Frühjahr 1941 nach Workuta gebracht wurde. Sie hatte Glück im Unglück: Nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges wurde sie im Herbst 1941 amnestiert, um sich der von General Anders in der Sowjetunion aufgestellten polnischen Exilarmee anschließen zu können. Mit ihr hat sie 1942 das Land in Richtung Persien verlassen. (Die Anders-Armee wurde nicht an der sowjetischen Front eingesetzt, sondern kämpfte mit den Westalliierten in Italien.) Marta Rudzka hat ihre Hafterinnerungen 1946 in Rom in polnischer Sprache veröffentlicht; eine deutsche Übersetzung erschien 1948 in der Schweiz (7). Es ist das erste Buch in deutscher Sprache über Workuta.

„Unser Kahn wird zwei Wochen nach Norden geschleppt. Morgens bekommen wir rohen Fisch und abgekochtes Flusswasser. Abends manchmal etwas Gerstenbrei. Dieser Fisch ist etwas Abscheuliches… Es kann ihn auch nicht jeder vertragen, so dass eine Epidemie von Diarrhöe einsetzt. Auch bekommen wir jetzt Zwieback statt Brot, einen besonders harten Schiffszwieback, je drei Stücke alle vierundzwanzig Stunden. Ihn zu essen ist äußerst anstrengend. Zuerst muss man ihn in ganz kleine Stücke zerbrechen, und er ist so hart, dass man Blasen an den Händen davon bekommt. Dann müssen die Stückchen zuerst in heißem Wasser aufgeweicht oder noch weiter zerkrümelt und dann im Mund stundenlang gekaut werden, bis man sie schlucken kann. Unsere Gaumen und Kiefer sind nach ein paar Tagen ganz wund, und eine Menge kalkarmer Zähne gehen dabei drauf.“
Marta Rudzka hat anschaulich die Flussfahrt auf der Petschora und Ussa beschrieben; den Beginn schildert sie so: „Wir sind ungefähr dreihundertfünfzig Frauen und die Verschiffung nimmt kein Ende… Der Kahn ist durch eine Bretterwand in zwei Abteile geteilt. Das zweite wird von den Männern bevölkert…Es ist überfüllt, dunkel und so eng, dass man nicht aufrecht sitzen kann. Aber ich habe keine Kraft mehr, darüber zu verzweifeln… Der Krach, die Überfüllung, die Abfälle, die uns von den oberen Bunkern (Pritschen) aus dauernd auf den Kopf geworfen werden, die jähe feuchte Kälte, die vom Grund des Kahns aufsteigt, die Krätze, die Läuse und die Mücken lassen mich völlig ungerührt. Ich ziehe mir meine Decke über den Kopf und schlafe ein.“ (S.112 ff.)

Über die Reise selbst schreibt sie: „Unser Kahn wird zwei Wochen nach Norden geschleppt. Morgens bekommen wir rohen Fisch und abgekochtes Flusswasser. Abends manchmal etwas Gerstenbrei. Dieser Fisch ist etwas Abscheuliches… Es kann ihn auch nicht jeder vertragen, so dass eine Epidemie von Diarrhöe einsetzt. Auch bekommen wir jetzt Zwieback statt Brot, einen besonders harten Schiffszwieback, je drei Stücke alle vierundzwanzig Stunden. Ihn zu essen ist äußerst anstrengend. Zuerst muss man ihn in ganz kleine Stücke zerbrechen, und er ist so hart, dass man Blasen an den Händen davon bekommt. Dann müssen die Stückchen zuerst in heißem Wasser aufgeweicht oder noch weiter zerkrümelt und dann im Mund stundenlang gekaut werden, bis man sie schlucken kann. Unsere Gaumen und Kiefer sind nach ein paar Tagen ganz wund, und eine Menge kalkarmer Zähne gehen dabei drauf.“ (S.115)

Dann notiert sie über die Hygiene an Bord: „Das Waschen ist wirklich eine ganz gefährliche Sache. Wir besitzen einen einzigen Eimer, mit dem wir von unserem „Deck“-Sektor aus Wasser heraufholen. Es ist überhaupt keine Reeling da und das Deck ist ein ewig nasses schrägliegendes Brett und so schmal, dass zwei Personen nur mit Mühe zusammen darauf stehen können. Wir müssen in unserem Sektor beim Bug bleiben, der auch die Latrine enthält und lächerlich klein ist für dreihundertfünfzig Frauen, die alle sich und ihre Kleider waschen wollen. Die Latrine ist eine flache Hütte, die nach dem Wasser zu offen ist… Sie hat nur vier Löcher, aber immer drängen sich sechs Frauen gleichzeitig hinein, während sechzig andere schubsend und stoßend warten, bis sie an der Reihe sind … Unsere uniformierten Wachen beobachten uns vom oberen Deck aus ohne eine Spur von Verlegenheit oder Interesse. Wir Häftlinge sind in ihren Augen keine Menschen, sondern einfach Vieh.“ (S.119)

Von der Workuta-Mündung werden die Frauen mit der Schmalspurbahn auf offenen Güterwagen weiter transportiert; den letzten Teil des Weges zu ihrem Lager müssen sie dann zu Fuß laufen: „Nun treiben sie uns über die Tundra, durch scharfes Gras, das uns die Beine zerschneidet, durch Preiselbeergestrüpp, durch Sümpfe, Heidekraut und Moor… Ich weiß nicht, wieviel Kilometer es sind, in Wirklichkeit wahrscheinlich nicht mehr als fünfzehn. Aber fünfzehn Kilometer von diesem Stolpern, Versinken, Sich-wieder-Aufraffen sind so viel wie fünfzig auf einer normalen Straße. Von Hunger geschwächt, von der Last unserer Bündel, die mit jedem Schritt drückender wird, gebeugt, blutig geschrammt von den scharfen Reisern, oft bis zum Knie im Schlamm, bewegen wir uns mit dem Aufwand unserer letzten Kraft vorwärts.“ (S.126)

Aino Kuusinen begann ihre viermonatige Schiffsreise nach Norden im Mai 1939 in Kotlas auf einem alten Raddampfer, der die nördliche Dwina flussabwärts nach Archangelsk fuhr. Dort wurden die für die weitere Seereise zu kranken und schwachen Häftlinge einfach hinter einem Hafenschuppen erschossen. Nach der Ankunft in Narjan-Mar ging es dann auf einem Lastkahn die Petschora und Ussa flussaufwärts. Die 39 Frauen des Transports mussten an Deck kampieren; in den Laderaum mit vierstöckigen Pritschen wurden 1.900 Männer gepfercht. An Bord assistierte Aino Kuusinen als gelernte Krankenschwester einer ebenfalls gefangenen Ärztin. Über einen Besuch in dem dunklen Laderaum berichtet sie: „… unter dem Schutz mehrerer Aufseher versuchten wir, die Kranken ausfindig zu machen. Unglücklicherweise konnten wir jedoch wegen der Finsternis wenig helfen. Die Situation schien hoffnungslos, und der fürchterliche Gestank war kaum zu ertragen. Wir waren schließlich froh, lebendig wieder an die frische Luft zu gelangen.“ Sie fährt dann fort: „Obgleich sich in den folgenden Tagen und Wochen die Lage etwas besserte, weil ein Teil der Gefangenen an Land gebracht und in die Lager an den Ufern der Petschora geschafft wurde, mussten zum Schluss viele Insassen des Laderaums …als Leichen an Land getragen werden.“ (S.220)

Nach einem Zwischenaufenthalt in Kotschmes, dem Umschlagplatz für die Lager in Inta und Abbes, erreichte Aino Kuusinen im folgenden Winter nach einem dreiwöchigen Fußmarsch auf dem Eis der Ussa die Workutamündung und von dort mit der Schmalspurbahn das Ziel Workuta.

Mit dem weiteren Ausbau des Kohle-Reviers erwiesen sich der lange und nicht ganzjährig nutzbare Wasserweg sowie die Schmalspurbahn als völlig unzureichend. Deshalb beschloss die sowjetische Regierung 1936 den Bau einer über 1000 km langen Eisenbahnlinie von Kotlas nach Workuta. Dies brachte den Geologen zusätzliche Belastungen: sie mussten in dem unwegsamen und über weite Strecken sumpfigen Gelände eine geeignete Trasse für die mehrfach geänderte Linienführung finden. Beim Bahnbau wurden neben russischen Häftlingen ab Herbst 1939 auch polnische Kriegsgefangene eingesetzt, die unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten mussten. Es heißt, dass unter jeder Schwelle ein Toter liege. Mit Beginn des deutsch-russischen Krieges wurde der Bahnbau nochmals forciert; im Dezember 1941 war er beendet und Workuta an das russische Eisenbahnnetz angeschlossen.

 

  1. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in Workuta

Während ihrer Haftzeit in Workuta hat Aino Kuusinen als Krankenschwester in verschiedenen Lagern gearbeitet und so einen umfassenden Einblick in die Arbeits- und Lebensbedingungen der Häftlinge und in die gesundheitlichen Auswirkungen erhalten. Die meisten litten an Unterernährung und Vitaminmangel, weil die tägliche Essensration völlig unzureichend war für die schwere zehn- bis zwölfstündige Arbeit im Bergwerk: morgens Haferbrei, abends eine dünne Suppe, außerdem 800 Gramm wässriges Brot, weder Kartoffeln noch Gemüse. Wurde die Arbeitsnorm nicht erfüllt, gab es den „Strafkessel“ mit nur 200 Gramm Brot. Aino Kuusinen resümiert lapidar: „In Anbetracht der äußerst anstrengenden Arbeit, die man die Männern abverlangte, konnten sie bei dieser Ernährung nicht lange am Leben bleiben.“(S.236)

Bei ihrer Tätigkeit auf einer chirurgischen Krankenstation erlebte sie, wie sich wegen der völlig ungenügenden Sicherheitsvorschriften die Zahl der Unfälle mit jedem neu eröffneten Schacht erhöhte. Als „Todeskommando“ war bei den Gefangenen die Abordnung in Außenlager zum Eisenbahnbau gefürchtet. Dazu schreibt Aino Kuusinen: „Nur eine kleine Minderheit kehrte vom Bahnbau wieder zurück, und diese berichteten dann von dem traurigen Schicksal ihrer Leidensgenossen, die wochenlang dort bleiben mussten. Die Ernährung war unbeschreiblich knapp und niemand sorgte für die Erkrankten. Fiel einer vor Schwäche um und konnte nicht wieder aus eigener Kraft aufstehen, wurde er ohne viel Aufhebens erschossen.“ (S.240)

Für den russischen Journalisten Michail Rosanow war seine elfjährige Haft von 1930 bis 1941 eine Odyssee durch die nordrussische Lagerwelt: von den Solowezki-Inseln über Uchta und das mittlere Petschoragebiet nach Workuta, wo er die letzten zwei Haftjahre verbrachte. Während des Krieges geriet er an der Front in deutsche Gefangenschaft, konnte anschließend in Westdeutschland bleiben und veröffentlichte hier 1951 im russischen Emigrantenverlag „Possev“ seine Hafterinnerungen (8). Dort schreibt er, dass bei den Gefangenen des Nordens Workuta vor allem wegen seines Ziegeleilagers gefürchtet war. Bei ihm handelte es sich um ein besonderes Straflager abseits des allgemeinen Lagergebiets für Häftlinge mit einer zusätzlichen Strafe wegen „Agitation“, „Sabotage“ und anderem „schädlichen Verhalten“ im Lager. Die Verhältnisse dort waren um ein Mehrfaches schlechter als in anderen Straflagern; die Häftlinge überlebten kaum mehr als sechs Monate. Wer doch von dort zurückkam, galt weiterhin als „Todeskandidat“. Besonders traurigen Ruhm erlangte das Ziegeleilager während der „Jeschowschtschina“, auf die im folgenden Kapitel eingegangen wird.

Das Leben in den Frauenlagern Workutas war ebenfalls durch extrem hohe Arbeitsanforderungen gekennzeichnet, außerdem oft durch demütigende und entwürdigende Behandlung der Inhaftierten. Marta Rudzka erinnert sich an ihr Lager, einen landwirtschaftlichen Betrieb für die Milch- und Fleischversorgung von Workuta:

„Das Straflager Loch Workuta besteht aus einer Anzahl von Gebäuden, die planlos kreuz und quer auf einem steilen Flußufer verstreut sind: Holzschuppen, Baracken, rasengedeckte Erdunterstände und riesige Zelte… (Unser) Zelt, das von weitem wie ein großer weißer Pilz aussieht, ist in Wirklichkeit so etwas wie eine ungeheure Markise, die auf zwei Rängen niedriger, mit Reisern bedeckter Bunker (Pritschen) sechzig Frauen beherbergt. Daneben enthält es einen kleinen eisernen Ofen und einen leckenden Kübel… die Luft ist stickig, riecht säuerlich nach den Reisern unserer Betten und dem Rauch des feuchten Holzes, das im Ofen schwelt; die Tür hängt schief in ihrem hölzernen Rahmen, und wenn man sie aufmacht, muss die Öffnung mit einer Zeltbahn verhängt werden, weil sonst mehr Mücken als Luft hereinschwirren.“(S.131) „Die Hälfte unseres Zeltes macht Heu und die andere schneidet Zweige. Die vorgeschriebene tägliche Quote sind achtzig Bündel oder zwanzig Kilo pro Person, was ganz unmöglich ist. Die Sträucher sind zäh und nass und unser Messer besteht aus einer alten Sichel, deren Ende mit einem Lumpen umwickelt ist. Man muss mit einem Busch förmlich kämpfen, bis man ihm einen Zweig entreißt. Aber das Heuen ist vielleicht noch schlimmer. Die bescheidenen Wiesenflecken, die aus der rostroten Tundra herausgeschnitten sind, sind etwa vier Kilometer weit entfernt; da wir zum Mittagessen zurück müssen, machen wir den Weg viermal am Tag – sechszehn Kilometer mit schweren Männerstiefeln durch die Tundra – die uns aber nicht als Arbeitszeit angerechnet werden. Die Wiesen sind mit einer blutdürstigen kleinen Fliege verseucht, die durch jedes Moskitonetz oder Kleidungsstück eindringt. Die Frauen sind allabendlich durchweicht (denn es regnet täglich), bluten vom Kampf mit dem Gestrüpp der Tundra und haben kreisförmige scharlachrote Fliegenstiche an Hals, Hand- und Fußgelenken.

Unsere Nahrung besteht morgens aus einem Hering und einem winzigen Brötchen, mittags aus einer Suppe und einem dünnen Brei von gefrorenen, süßlichen Kartoffeln, manchmal etwas Gerstengrütze, abends wieder aus einem Hering oder einem Mehlwasser mit ein paar harten Klößen darin. Mittags bekommen wir auch unsere Tagesration von feuchtem, dunklem, teigigem Brot, was eigentlich den Hauptteil unserer Ernährung ausmachte. Der Werktag beginnt um fünf, so dass wir jeden Morgen um vier Uhr aufstehen müssen. Aber nichtsdestoweniger ist um elf Uhr abends auf dem Hof draußen Lagerappell…“ (S.134)

Marta Rudzka ist bald so erschöpft und anhaltend krank, dass sie schließlich in das Krankenlager Sangorodok verlegt wird, wo sie bis zu ihrer Abreise aus Workuta bleiben kann.

Das Leben der Gefangenen wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass politische und kriminelle Häftlinge nicht getrennt waren. Die Kriminellen wurden als „Volksfreunde“ oft in leitende Funktionen in der Arbeits- und Lagerorganisation eingesetzt; sie traten arrogant auf und schikanierten die politischen „Volksfeinde“, ohne dass die Lagerverwaltung eingriff. (Erst 1948 erfolgte die Trennung beider Gruppen.)

 

  1. Der Hungerstreik 1936/37 und die „Jeschowschtschina“ 1937/38

Im Mai 1951 veranstaltete die „Internationale Kommission zur Bekämpfung des Konzentrationslagersystems“ in Brüssel eine sechstägige öffentliche Verhandlung über sowjetische Lager. Zu dieser Kommission hatten sich ehemalige KZ-Häftlinge aus mehreren westeuropäischen Nationen zusammengeschlossen, um gemeinsam gegen das Fortbestehen von Konzentrationslagern in verschiedenen Teilen der Welt öffentlich aufzutreten. In Brüssel machten vor einer international zusammengesetzten Jury fünfundzwanzig ehemalige GULAG-Häftlinge ihre (vereidigten) Aussagen über das sowjetische Lagersystem und ihre persönlichen Erfahrungen. Das Protokoll der Verhandlung wurde als „Weißbuch über die sowjetischen Konzentrationslager“ in französischer Sprache veröffentlicht; es liegt auch in deutscher Übersetzung vor (9).

Von den fünfundzwanzig Zeugen waren fünf in Workuta inhaftiert, darunter ein deutscher Kriegsgefangener (von 1945 bis 1948). Im vorliegenden Zusammenhang sind die Aussagen des ukrainischen Literaturprofessors Boris Podolak wichtig, der von 1936 bis 1940 dort war und den ersten großen Streik in Workuta miterlebt hat. Es ist meines Wissens der einzige in deutscher Sprache vorliegende Zeitzeugenbericht; ansonsten gibt es nur wenige kurze Erwähnungen in den in Deutschland veröffentlichten Beiträgen zur GULAG-Geschichte (10).

Initiator des Hungerstreiks (nach vergeblich vorgetragenen Forderungen) war eine politisch aktive Gruppe von trotzkistischen Häftlingen; ihrem Aufruf folgten andere Gefangene, und auch diejenigen, die sich nicht am Hungerstreik beteiligten, unterstützten die Forderungen. Sie bezogen sich zunächst auf die Arbeits- und Lebensbedingungen im Lager:

Trennung der politischen und kriminellen Häftlinge,

Anwendung des in der Sowjetunion bereits gesetzlich vorgeschriebenen Achtstunden-Arbeitstages auch auf die Lager,

einheitliche Verpflegung unabhängig von der Normerfüllung,

Bezahlung der Arbeit und Einkaufsmöglichkeiten im Lager,

Bezug sowjetischer Zeitungen im Lager.

Darüber hinaus wurden auch allgemeine politische Forderungen erhoben, insbesondere die nach Auflösung der Moskauer Sondertribunale und Aufhebung ihrer Fernurteile.

Ende Oktober 1936 begannen mehrere Hundert Häftlinge (die genauen Zahlen differieren in den Quellen) mit dem Hungerstreik; sie blieben auf ihren Pritschen und verweigerten die Arbeit und Nahrung. Nach etwa einer Woche begannen die Lagerbehörden, die Streikenden mit Pferdekarren in ein Krankenlager zu bringen, wo Ärzte versuchten, sie zwangsweise künstlich zu ernähren. Die erschöpften Gefangenen setzten dieser unangenehmen Prozedur keinen Widerstand entgegen, gaben aber ihren Streik nicht auf.

Jedoch hielten nicht alle durch, einige starben, andere brachen vorzeitig den Hungerstreik ab. Nach Angaben Podolaks beendeten die letzten vierzig den Streik im Februar 1937; Solschenizyn nennt den März als Streikende, nachdem in einem Telegramm aus Moskau die Erfüllung aller Forderungen der Streikenden zugesagt worden war – was dann allerdings nicht eingehalten wurde.

Auch diejenigen, die sich nicht an der Protestaktion beteiligt hatten, mussten ab Jahresbeginn 1937 unfreiwillig hungern, weil offenbar im Winter die Versorgung des rasch expandierenden Lagersystems zusammengebrochen war. In Workuta begann eine anhaltende Hungersnot; Podolak berichtet darüber: „Gegen April oder Mai… hatten 75% der Häftlinge Skorbut. Die Leute hatten die Beine geschwollen und die Brust voller Ödeme. Nur der Einzug des Frühlings brachte uns die Rettung. Anfang Juni begann in dieser Gegend ein wenig Kraut zu wachsen. Das war das erste Grün an den Ufern der Workuta, es war etwas, was wir „wilden Lauch“ nennen. Ich erinnere mich, dass wir uns in Massen an die Ufer begaben, um dort etwas Grün zu holen. Während der wilde Sauerampfer an Ort und Stelle gegessen wurde, sammelten wir den wilden Knoblauch in kleinen Paketen und vermischten ihn mit der Grütze oder aßen ihn so, wie er war. Dadurch wurde die Mehrzahl von uns gerettet.“ (S.47)

Der Herbst 1937 brachte neue Schrecken: aus Moskau kam eine Kommission, die in den Lagern Massenverhaftungen vornahm. Ein Lagergefängnis wurde eingerichtet, in dem Vernehmungen stattfanden und zusätzliche Haftstrafen sowie Todesurteile ausgesprochen wurden. Davon waren zuerst die Anführer und Aktivisten des Hungerstreiks betroffen, dann aber auch andere Häftlinge. Die „Jeschowschtschina“, der „Große Terror“ jener Jahre unter dem NKWD-Chef Jeschow, wütete auch in den Lagern bei den bereits Inhaftierten. Die zum Tode Verurteilten, darunter auch Frauen, wurden nach Angaben Podolaks in das bereits erwähnte Ziegeleilager gebracht und dort Anfang März 1938 in mehreren Gruppen erschossen. Der Abschlussbericht der Moskauer NKWD-Kommission, der Mitte der neunziger Jahre in Russland veröffentlicht wurde, nennt die Zahl von 2.508 Hingerichteten (11) – das waren knapp siebzehn Prozent der über 15.000 damals in Workuta lebenden Häftlinge! (12) Diese Massenhinrichtungen sind als die „Kaschketinschen Erschießungen“ in die GULAG-Geschichte eingegangen, benannt nach dem NKWD-Offizier Kaschketin, der die Hinrichtungskommission leitete. Er ist später selbst, wie sein oberster Chef Jeschow, ein Opfer der nächsten Säuberungswelle geworden.

 

  1. Die Jahre des Krieges

Der „Große Vaterländische Krieg“ 1941-45 brachte für den GULAG allgemein und Workuta insbesondere erhebliche Veränderungen. Bereits kurz nach Kriegsbeginn ordnete das NKWD eine Reihe von Verschärfungen des Lagerregimes an: Verlängerung der Arbeitszeit, Kürzung der Verpflegung, Verbot von Außenarbeiten ohne begleitende Wachmannschaft, Ausschluss der politischen Häftlinge von verantwortungsvollen Tätigkeiten, Verschiebung anstehender Entlassungen wegen Strafverbüßung auf das Kriegsende sowie erweiterte Eingriffsrechte der Lagerverwaltungen. Die politischen Häftlinge, die bisher pauschal als „Trotzkisten“ diffamiert worden waren, mussten jetzt als „Faschisten“ noch stärkere Diskriminierungen erdulden. Kriminelle konnten durch freiwilligen Übertritt in den Militärdienst der Lagerhaft entkommen, politische dagegen nur sehr schwer. Die Lager wurden wieder aufgefüllt mit neuen Häftlingen aus den okkupierten ostpolnischen Gebieten und den baltischen Staaten sowie Sowjetbürgern, die als Sympathisanten oder Agenten der Deutschen verdächtigt wurden.

Ende 1941 beunruhigten Gerüchte über bevorstehende neue Massenhinrichtungen á la Kaschketin die Gefangenen in der Region. Sie führten nicht in Workuta selbst, sondern in einem kleinen Außenlager am Ufer der Ussa zu einem bewaffneten Massenausbruch. Seine Vorgeschichte und sein Verlauf sind aus veröffentlichten NKWD-Akten bekannt; Anne Applebaum hat diese Revolte als „in den Annalen des GULAGs einzigartig“ gebührend gewürdigt (13). Die etwa 200 auf einem Holzumschlagplatz arbeitenden Häftlinge beschlossen gemeinsam mit ihrem Lagerleiter, der selbst ehemaliger Häftling war, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und lieber als Rebellen zu sterben, denn als Häftlinge hingerichtet zu werden. In einer sorgfältig vorbereiteten Aktion überwältigten sie am 24. Januar 1942 die kleine Wachmannschaft ihres Lagers, übernahmen die Waffen und zogen zum Rayonzentrum Ust-Ussa, wo sie die Radiostation und das Telegraphenamt besetzten. Aus dem örtlichen Gefängnis befreite Häftlinge schlossen sich den Aufständischen an. In mehrtägigen Gefechten mit herbeigeeilten Sondertruppen wurden sie in der Umgebung der Stadt nach und nach überwältigt. Die meisten starben im Kampf, durch Selbstmord oder spätere Hinrichtung.

Im August 1942 kündigte die GULAG-Administration ein schärferes Vorgehen gegen „konterrevolutionäre Erscheinungen“ jeglicher Art an; die Folge waren neue Vernehmungen, Festnahmen und Arreste in den Lagern. 1943 wurde eine noch härtere Variante der Lagerhaft eingeführt und nach zaristischem Vorbild „Katorga“ genannt. Diese wohl zuerst in Workuta eingerichteten Speziallager waren für besonders schwere Vergehen, insbesondere Landesverrat vorgesehen; die an ihrer Kleidung gekennzeichneten Katorga-Häftlinge wurden nur zu schweren und gefährlichen Arbeiten herangezogen; Verpflegung und medizinische Betreuung waren noch schlechter als in anderen Straflagern und die Sterbeziffern waren entsprechend hoch. Solschenizyn hat diese Katorga „in die Länge gezogenen offenen Mord“ genannt (14).

Mit der Besetzung des ukrainischen Donbass-Kohle-Reviers durch deutsche Truppen stieg die Bedeutung Workutas als Energielieferant im europäischen Russland weiter an; der Ausbau bestehender und die Anlage neuer Schächte wurde noch einmal forciert. Die Lagerpopulation in Workuta wuchs während des Krieges auf mehr als das Doppelte an: von 19.000 Anfang 1941 auf knapp 40.000 Anfang 1945 (15). Hinzu kamen Zwangsumgesiedelte, insbesondere Russlanddeutsche, die aus ihren Heimatgebieten in der Ukraine, an der Wolga und im Kaukasus vertrieben und in die kasachische Steppe, die sibirischen Wälder und in den hohen Norden deportiert worden waren.

 

  1. Ausblick

Nach Kriegsende erfüllten sich die Hoffnungen der politischen Gefangenen nicht; es gab zwar einige Erleichterungen im Lager, aber Amnestien wieder nur für Kriminelle. Da dem GULAG-System eine bedeutende Rolle beim Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes zugewiesen wurde und dafür noch mehr Kohle nötig war, stieg auch in Workuta die Zahl der Lagerinsassen nach neuen Massenverhaftungen an: 1951 betrug sie 73.000 (16). Nach Stalins Tod scheiterten die politischen Gefangenen zunächst mit ihren Freiheitsforderungen; der große Streik in Workuta im Sommer 1953 wurde blutig niedergeschlagen. Es gab dann aber doch Hafterleichterungen und umfassende Amnestien, die auch den deutschen Häftlingen die Freiheit brachten.

Gegenwärtig wird mit mehreren Publikationen, Tagungen und Ausstellungen an die ein halbes Jahrhundert zurückliegende Schlussphase des GULAG-Systems, die Streiks und die Heimkehr der Gefangenen erinnert. Mit diesem Rückblick auf die Frühzeit von Workuta sollen auch die Opfer der besonders harten Aufbaujahre des GULAGs in das Gedenken einbezogen wenden.

 

Anmerkungen

1) Vgl. dazu: Sowjetische Militärtribunale. Band 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941-1953. Hrsg. von Andreas Hilger, Ute Schmidt und Günther Wagenlehner. Köln/Weimar/Wien 2001, insb. die Beiträge von Hilger S.93 ff. und 211 ff.

2) Vgl. dazu: Sowjetische Militärtribunale. Band 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945-1955. Hrsg. von Andreas Hilger, Mike Schmeitzner und Ute Schmidt. Köln/Weimar/Wien 2003; insb. die Beiträge von Hilger S.663 ff. und Hilger/Morré S.685 ff.

3) Vgl. dazu Siegfried Jenkner: Erinnerungen politischer Häftlinge an den GULAG. Eine kommentierte Bibliographie. Dresden 2003. Derselbe: Erinnerungen an Workuta – Ein Literaturbericht. In: Begegnungen in Workuta. Erinnerungen, Zeugnisse, Dokumente. Hrsg. von Jan Foitzik und Horst Hennig. Leipzig 2003, S.303 ff.

4) Helmut Schaefer: Entstehung der subarktischen Großstadt. Workuta (Polarural). In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“. Bonn, Nr. BVII/58 vom 19.2.1958.

5) E.W.Markowa/K.K.Wojnowskaja: Konstantin Genrichowitsch Wojnowskij-Krieger 1894-1979. Moskwa 2001.

6) Aino Kuusinen: Der Gott stürzt seine Engel. Hrsg. von Wolfgang Leonhard. Wien 1972.

7) Marta Rudzka: Workuta – Weg zur Knechtschaft. Zürich 1948.

8) Michail Rosanow: Sawojewateli belych pjaten (Die Eroberer der weißen Flecken). Limburg 1951.

9) Internationale Kommission zur Bekämpfung des Konzentrationslagersystems: Eine Welt hinter Stacheldraht. Weißbuch über die sowjetischen Konzentrationslager. Düsseldorf o.J.(1951).

10) Vgl. dazu Alexander Solschenizyn: Der Archipel GULAG, Band 2. Bern/München 1974, S.307 f.

Ralf Stettner: „Archipel GULAG“: Stalins Zwangslager – Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Paderborn 1996, S.346.

Schwarzbuch GULAG. Hrsg. von I.W.Dobrowolski. Graz/Stuttgart 2002, S.64 f.

Anne Applebaum: Der GULAG. Berlin 2003, S.429.

11) W.M.Poleschtschikow: Sa semju petschatjami. Is archiva KGB (Hinter sieben Siegeln. Aus dem Archiv des KGB). Syktywkar 1995, S.21.

12) Obschtschestwo MEMORIAL: Sistema isprawitelno-trudowych lagereij w SSSR 1923-1960 (Gesellschaft MEMORIAL: Das System der Besserungs-Arbeitslager in der UdSSR 1923-1960). Moskwa 1998, S.192.

13) Poleschtschikow, a.a.O., S.37-65. Applebaum, a.a.O., S.430-434.

14) Alexander Solschenizyn: Der Archipel GULAG,3.Band. Bern/München 1976, S.8.

15) Obschtschestwo MEMORIAL, a.a.O., S.192.

16) Obschtschestwo MEMORIAL, a.a.O., S.192.

 

Der Wasserweg von Archangelsk nach Workuta vor Fertigstellung der Eisenbahnlinie Kotlas – Workuta

 

Bild oben: Blick von der Abraumhalde des Schachtes 9/10 in Workuta auf das unmittelbar angrenzende Lager; aufgenommen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre nach Auflösung des Straflagers. Im Hintergrund rechts das Lager und die Abraumhalde des Schachtes Nr.1 „Kapitalnaja“, links im Flussbogen das Elektrizitätswerk TEZ1. (Die Aufnahme wurde 1998 aus Workuta mitgebracht von dem seinerzeit in diesem Lager inhaftierten Peer Lange.)

 

 

 

 

 

 

 

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Siegfried Jenkner

Siegfried Jenkner

Ich wurde geboren am 14.11.1930 in Frankfurt/Main. Nach Schulbesuch in Leipzig (1937-40), Thorn (1940-45), Borna (1945-47), Leipzig (1947-49) legte ich mein Abitur 1949 an der Leibnizschule Leipzig ab. Ab dem WS 1949/50 studierte ich an der Universität Leipzig, Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät, Abt. Kulturpolitik. Gemeinsam mit anderen Kommilitonen der „Gruppe Belter“ aus politischen Gründen verhaftet, wurde ich am 20.1.1951 von einem Sowjetischen Militärtribunal in Dresden zu zweimal 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wegen angeblicher politischer Spionage, antisowjetischer Agitation und illegaler Gruppenbildung. Im April 1951 wurden wir nach Workuta deportiert, dort arbeitete ich auf dem Bau und im Kohlebergwerk. 1955 in die Bundesrepublik Deutschland entlassen; im Mai 1994 volle Rehabilitation durch die russischen Behörden.

In der Bundesrepublik studierte ich von 1955-60 an der Hochschule für Sozialwissenschaften, Wilhelmshaven-Rüstersiel und der Universität Kiel. Sozialwissenschaftliches Diplom 1960 in Wilhelmshaven; sozialwissenschaftliche Promotion 1965 in Göttingen. Anschließend wissenschaftlicher Assistent im Fach Politikwissenschaft in Wilhelmshaven und in Göttingen. 1969 erhielt ich eine Professur für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, Abt. Hannover, seit 1976 Fachbereich Erziehungswissenschaften I der Universität Hannover.

Von 1989/90 an Mitarbeit im European Forum for Freedom in Education, einer internationalen nichtstaatlichen Organisation für pädagogische Ost-West-Kooperation. 1994 Honorarprofessor der St.Petersburg State University of Pedagogical Arts. Mitarbeit im deutschen Zweig der russischen Häftlings- und Menschenrechtsorganisation MEMORIAL.
Emeritierung zum Ende des Wintersemesters 1995/96. Seit 1960 verheiratet mit Brigitte Mahr, drei Kinder.

Siegfried Jenkner Die Frühzeit von Workuta – ein Überblick aus Berichten und Dokumenten

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