Im Lager herrschte anfangs recht gute Stimmung, es wurde uns kulturelle Betreuung neben Schulung geboten, auch die Verpflegung war anfangs reichhaltiger. Doch die Wochen verstrichen, es kamen längst keine Transporte mehr, und das Essen wurde wieder „normal.“ Wochenlang erhielten wir grüne Tomaten in Wasser gekocht mit etwas Hirse oder Buchweizen. Kameraden, die hohes Fieber mit Durchfall bekamen, wurden isoliert, aber die Suppe blieb die gleiche. Eines Tages erhielt jeder der ungefähr 1300 Gefangenen eine Postkarte des Roten Kreuzes bzw. Roten Halbmondes. Wir sollten schreiben, es ginge uns gut, und wir kämen bald heim.
Nach einigen Wochen wurde natürlich gefragt, warum wir keine Antwort erhielten. „Es wird bald geschehen“ war dann die übliche Ausrede (skoro budit!). Die Karten haben ihre Adressaten nie erreicht,, sie wurden wohl gar nicht abgeschickt. Ende September 1953 erschoss ein Posten vom Turm aus ohne Grund und Warnung drei Kameraden, die schon neun Jahre in Gefangenschaft waren. Die gesamte Lagerbelegschaft trat in einen Hungerstreik und verlangte eine christliche Bestattung der gefallenen Kameraden. Alle Versprechungen des Lagerkommandanten wurden aber nicht erfüllt, die Leichen in der Nacht weggebracht und die „Provokateure“ des Hungerstreiks in Isolierhaft abgeführt.
Ende November erschienen mehrere Offiziere und riefen 127 Kameraden zum Transport auf, ein System der Auswahl war nicht erkennbar, sogar der älteste Gefangene mit 69 Jahren befand sich unter den Abtransportierten. Diese wurden ins Gefängnis nach Königsberg gebracht; dort schnitt man ihnen wieder die Haare und eröffnete ihnen, sie müssten warten, bis die nächste Amnestie erlassen würde! Bekannt wurden diese Vorgänge, weil am Tage unserer Abfahrt drei Gefangene wieder aus dem Königsberger Gefängnis zum Bahnhof Tapiau gebracht worden waren, um mit unserem Transport mit zu fahren.
Als nach den fünf Monaten des Wartens kaum noch einer auf Heimkehr hoffte, wurden wir am 23. Dezember 1953 alle streng durchsucht, kein Fetzen beschriebenes Papier oder Gedrucktes durfte die Sowjetunion verlassen. Als die erste Gruppe Abgefertigter die Ordensburg verließ, ging ein Ruf durchs Haus: „ohne Konvoi“, also ohne Bewachung! Der Zug rollte in der Nacht gen Südosten, am Heiligen Abend kamen wir nach Wilna, von dort über Baranowice bis Brest-Litowsk. Am 1. Feiertag wurden wir umgeladen und rollten dann durch Polen, an der Grenze bei Kunersdorf durften uns diesmal auch polnische Zöllner zählen. Im Entlassungslager Fürstenwalde wurde bescheinigt, dass ich mich dort einen Tag aufgehalten hatte.