Um die Osterzeit des Jahres 1953 wurde ich in das alte Waldlager 035 zurückverlegt. Zunächst sollten wir frühere Kahlschlagplätze von Ästen und unter dem Schnee liegengebliebenen Baumstümpfen säubern, anschließend die in der Tauwetterperiode völlig verschobene Kleinbahnstrecke wieder richten. Bald zeigte sich bei ansteigender Tagestemperatur eine weitere klimatische Besonderheit des Straflagergebietes. Tausende von kleinen Stechfliegen umschwärmten uns, die Mückennetze bildeten keinen hinreichenden Schutz gegen die Stiche der „Moschkas“. Das Gesicht begann anzuschwellen und zu schmerzen. Ein Ukrainer erbarmte sich meiner und brachte mir aus der Lagerschmiede etwas Wagenschmiere mit, womit ich Gesicht und Arme dick einschmierte. Die Moschkas stachen dann nicht mehr, sondern blieben kleben. Auch die Mittagssuppe, die im Sommer in den Wald gebracht wurde, blieb von den Moschkas nicht verschont. Kaum hatte man die Schüssel erhalten, musste man schnell in ein Gebüsch kriechen, damit nicht zu viele Fliegen in die Suppe kamen, trotzdem musste die obere Schicht schon weggegossen werden, weil sie schwarz von Fliegen war.
An einem zufällig arbeitsfreien Sonntag Ende Juni 1953 war ich nach dem Zählappell auf der Pritsche eingeschlafen. Plötzlich rüttelt mich ein Kamerad wach und ruft: „Du bist auch aufgerufen zum Transport!“ Es waren acht Deutsche und sechs Ungarn, die zur Etappe aufgerufen worden waren. Bei sonstigen Etappen wurden stets sämtliche in den Lagern vertretenen Nationalitäten wie Russen, Ukrainer, Polen, Deutsche, Tschechen, Ungarn, Kirgisen, Rumänen, Koreaner, Bulgaren oder Japaner zu Transporten zusammengestellt. Den stärksten Anteil an der Besatzung der ungefähr aus 50 Lagern bestehenden Taischeter sogenannten Regime-Lagertrasse bildeten Russen, Ukrainer und Angehörige der baltischen Länder. Aber bei dem jetzigen Transport sollten nur Deutsche und Ungarn dabei sein, das war zumindest auffällig! Zudem hatte man gerüchteweise von Unstimmigkeiten, ja sogar Streiks in der DDR gehört.
Der Zug, mit dem ich also mitfahren durfte, kam tief in der Nacht aus Richtung Bratsk zum Lager 01, in ihm lagen nur wieder Deutsche und Ungarn, vor allem rollte er weiter in Richtung Taischet, also nach Westen! Die Stimmung stieg noch mehr, als wir im Lager 020, das überraschenderweise leer war, ungewohnt höflich empfangen wurden. Beim Baden wurden uns die Kopfhaare nicht mehr geschnitten! Für uns ein weiteres Zeichen der Hoffnung, außerdem gab es neue Bekleidung. Wir durften Material für Reisigbesen für die Säuberung des Waggons im Walde sammeln. Die Posten scherzten mit uns und ließen uns sogar Walderdbeeren essen. Am nächsten Tage wurden nur die Deutschen in einen langen Zug verladen, der sich in Richtung Taischet in Bewegung setzte. Hinter Krasnojarsk wurde der Stacheldraht unter den Wagen beseitigt und die Tür durfte einen Spalt geöffnet bleiben. Man hatte uns nicht mitgeteilt, wohin wir führen, beziehungsweise ob wir entlassen würden. Doch jeden Morgen stellten wir erfreut fest, dass die Sonne hinter dem Zug aufging! Hinter Moskau, wo zum ersten Mal die mitgefangenen Frauen sich etwas außerhalb der Waggons aufhalten durften, begann das Rätselraten, in welche Richtung es weitergehen würde. Nach ein paar Tagen wurden wir in Weliki Luki alle zum Baden geführt – die Kopfhaare wurden wieder nicht geschnitten! Am übernächsten Morgen stellten wir fest, dass die Stationsnamen nicht mehr in kyrillischer Schrift geschrieben waren. Der nächste Bahnhof hieß Daugavas, wir waren also in Lettland. Bald stand Tauroggen angeschrieben, und kurz danach konnten wir die alte Ortsangabe „Tilsit“ lesen. Nach Insterburg teilte man uns mit, dass wir am nächsten Morgen am Bestimmungsort ausgeladen würden. An dem zerstörten Bahnhof stand „Gwardeisk“, aber ein noch lesbares Schild verriet uns, dass wir in Tapiau seien, wir marschierten auf die Ordensburg zu, wo wir beim Antreten im Hof von einem Oberstleutnant erfuhren, wir führen mit Sicherheit nach Hause. Es müsste nur noch auf andere Transporte gewartet werden. Diese kamen auch, einer davon aus Workuta, wodurch ich Nachrichten über die dorthin verbrachten Meuselwitzer erhielt.